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17. Dezember 2025

Pflichtteilfalle Leibrente: Wenn Schenkungen länger nachwirken

Nachlassgericht Probleme

In der Praxis der Vermögensnachfolge ist es ein gängiges Vorgehen: Eltern übertragen zu Lebzeiten eine Immobilie an eines ihrer Kinder, um die gesetzliche 10-Jahres-Frist anlaufen zu lassen, damit Pflichtteilsergänzungsansprüche der anderen Kinder reduziert werden. Viele wiegen sich nach Ablauf dieser 10-jährigen Frist in Sicherheit und glauben, dass enterbte Geschwister keine Ansprüche mehr geltend machen können. Doch diese Annahme kann sich als trügerisch erweisen.

Ein aktuelles Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg zeigt, dass diese Frist unter bestimmten Umständen viel später beginnen kann als gedacht – insbesondere, wenn im Gegenzug für die Übertragung eine Leibrente vereinbart wurde, was für die Beteiligten zu einer bösen und teuren Überraschung führen kann.

Inhaltsverzeichnis

  1. Das Wichtigste in Kürze
  2. Der Fall kurz erklärt: Worum ging es vor dem OLG Nürnberg?
  3. Wann beginnt die 10-Jahres-Frist bei einer Schenkung wirklich?
  4. Was bedeutet das Urteil für die Praxis?
  5. Praktische Auswirkungen auf die Vermögensnachfolge

Das Wichtigste in Kürze

  • Fristfalle: Bei Immobilienschenkungen gegen Leibrente kann die 10-Jahres-Frist für die sog. Abschmelzung, die zur Reduzierung von Pflichtteilsergänzungsansprüchen führt, deutlich später beginnen.
  • Urteil OLG Nürnberg: Auch Jahrzehnte alte Schenkungen können pflichtteilsrelevant bleiben.
  • RPE-Analyse: Die Entscheidung verkennt entscheidende Unterschiede zwischen Leibrente und Nießbrauch.
  • Hohe Unsicherheit: Bis zur BGH-Entscheidung ist unklar, wann die Frist wirklich beginnt.
  • Handlungsbedarf: Bestehende und geplante Übergaben sollten dringend fachanwaltlich geprüft werden.

Der Fall kurz erklärt: Worum ging es vor dem OLG Nürnberg?

Der Sachverhalt, über den das OLG Nürnberg zu entscheiden hatte (Urteil vom 27.06.2025, Az. 1 U 1335/24 Erb), ist ein klassisches Beispiel für die Komplexität der vorweggenommenen Erbfolge. Die Fakten lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die Schenkung: Eine Mutter übertrug bereits im Jahr 1995 mehrere Grundstücke an ihren Sohn.
  • Die Gegenleistung: Im Gegenzug erhielt die Mutter eine lebenslange, monatliche Leibrente. Die Höhe der Rente orientierte sich an den Mieteinnahmen eines der übertragenen Objekte und wurde durch eine Reallast im Grundbuch abgesichert.
  • Der Verzicht: Im Oktober 2013 verzichtete die Mutter auf die weitere Zahlung der Leibrente, woraufhin die Sicherheit im Grundbuch gelöscht wurde.
  • Der Erbfall: Im April 2021 verstarb die Mutter.
  • Der Streit: Die Schwester des beschenkten Sohnes klagte auf ihren Pflichtteilsergänzungsanspruch. Sie argumentierte, dass die 10-Jahres-Frist erst mit dem Verzicht auf die Rente im Jahr 2013 zu laufen begonnen habe. Ihr Bruder war hingegen der Ansicht, die Frist sei längst abgelaufen, da die Übertragung bereits 1995/1996 stattfand.

Das OLG Nürnberg gab der Schwester recht. Die Begründung der Richter, die primär auf das wirtschaftliche Ergebnis abstellt, mag zunächst plausibel klingen: Die Mutter habe den "Genuss" der Immobilie wirtschaftlich nie vollständig aufgegeben, da sie die Erträge in Form der Leibrente weiterhin erhielt. Der spürbare Vermögensverlust, der für den Beginn der 10-Jahres-Frist entscheidend ist, sei erst mit dem Verzicht auf diese Rentenzahlungen im Jahr 2013 eingetreten. Folglich war die Schenkung bei Eintritt des Erbfalls im Jahr 2021 noch nicht aus der Pflichtteilsberechnung herausgefallen.

Wann beginnt die 10-Jahres-Frist bei einer Schenkung wirklich?

Das zugrundeliegende Rechtsprinzip findet sich in § 2325 Abs. 3 BGB. Dieses besagt, dass Schenkungen innerhalb von zehn Jahren vor dem Erbfall bei der Berechnung des Pflichtteils berücksichtigt werden. Die Frist beginnt jedoch erst dann zu laufen, wenn der Schenker den verschenkten Gegenstand nicht nur rechtlich übergibt, sondern auch aufhört, ihn im Wesentlichen weiter zu nutzen. Juristen sprechen hier vom sogenannten "Genussverzicht". Der Schenker muss einen spürbaren Vermögensverlust erleiden und darf nicht mehr der wirtschaftliche Herr über den Gegenstand sein.

Ein klassisches und unstrittiges Beispiel hierfür ist der Vorbehalt eines Nießbrauchsrechts bei einer Immobilienübertragung. Behält sich der Schenker das Recht vor, die Immobilie selbst zu bewohnen oder die Mieteinnahmen zu kassieren, bleibt er faktisch "Herr im Haus". Die Rechtsprechung ist hier eindeutig: Die 10-Jahres-Frist beginnt in diesem Fall nicht zu laufen, solange der Nießbrauch besteht.

Was bedeutet das Urteil für die Praxis?

Das Urteil des OLG Nürnberg wendet anerkannte BGH-Grundsätze zwar an, überträgt sie jedoch auf eine Weise, die den fundamentalen juristischen Unterschieden zwischen Nießbrauch und Leibrente nicht gerecht wird. Aus unserer Sicht ist die Entscheidung daher rechtlich fraglich und schafft erhebliche Rechtsunsicherheit. Die Argumentation des Gerichts übersieht dabei drei entscheidende Punkte:

1. Leibrente statt Nießbrauch: Kein Nutzungsrecht für den Schenker

Eine Leibrente verschafft dem Schenker, anders als ein Nießbrauch, kein direktes Nutzungsrecht an der Immobilie. Sie begründet lediglich einen reinen Zahlungsanspruch gegen den Beschenkten. Der Schenker ist nur noch Gläubiger, nicht mehr "Herr im Haus". Er kann nicht mehr über die Nutzung der Immobilie entscheiden.

2. Volles wirtschaftliches Risiko beim Beschenkten

Im vorliegenden Fall trug der beschenkte Sohn das volle wirtschaftliche Risiko. Konkret bedeutet das: Selbst wenn die Immobilie leer gestanden und keine Mieteinnahmen generiert hätte, wäre der Sohn verpflichtet gewesen, die volle Rente an seine Mutter zu zahlen – notfalls aus seinem Privatvermögen. Die Mutter hingegen hatte einen grundbuchlich gesicherten Zahlungsanspruch, der unabhängig von der tatsächlichen Vermietungssituation bestand.

3. Berechnung nach Mieteinnahmen ändert nicht die rechtliche Einordnung

Die Tatsache, dass die Mieteinnahmen als Berechnungsgrundlage für die Rentenhöhe dienten, ändert nichts an der rechtlichen Natur der Vereinbarung. Es handelt sich um eine subjektive Wertvorstellung der Parteien, nicht aber um eine direkte Teilhabe an den Früchten der Immobilie, wie es beim Nießbrauch der Fall ist.

Praktische Auswirkungen auf die Vermögensnachfolge

Aus dieser juristischen Auseinandersetzung ergeben sich weitreichende praktische Folgen für die Gestaltung der Vermögensnachfolge:

1. Überprüfung bestehender Verträge ist dringend geboten: Personen, die in der Vergangenheit Immobilien gegen eine Leibrente übertragen oder erhalten haben, sollten ihre Verträge umgehend fachanwaltlich prüfen lassen. Je nach konkreter Formulierung, insbesondere bei einer Koppelung der Rente an die Mieteinnahmen, besteht nun ein akutes Risiko, dass die 10-Jahres-Frist für Pflichtteilsansprüche noch nicht oder erst viel später begonnen hat.

2. Erhöhte Rechtsunsicherheit: Das Urteil schafft erhebliche Unsicherheit für unzählige bereits durchgeführte Immobilienübertragungen gegen Leibrente. Schenker und Beschenkte können sich nicht mehr sicher sein, wann die 10-Jahres-Frist tatsächlich zu laufen beginnt. Was als sichere Gestaltung galt, kann sich nun als Pflichtteilfalle erweisen.

3. Keine endgültige Entscheidung: Das OLG Nürnberg hat die Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) zugelassen, und diese wurde inzwischen auch eingelegt. Das bedeutet, der BGH wird das letzte Wort in dieser Sache haben. Solange diese höchstrichterliche Entscheidung aussteht, ist bei der Gestaltung von Übergabeverträgen äußerste Vorsicht geboten.

4. Praktischer Gestaltungshinweis: Wer zukünftig eine Immobilie gegen eine Leibrente übertragen möchte, sollte zur Risikominimierung unbedingt eine direkte vertragliche Verknüpfung der Rentenhöhe mit den Mieteinnahmen des Objekts vermeiden. Alternativen sind beispielsweise die Festlegung einer fixen Rentenhöhe, die sich am Wert der Immobilie zum Zeitpunkt der Übergabe orientiert, und die Vereinbarung einer marktüblichen Wertsicherungsklausel (Indexierung), die explizit nicht an die Erträge des konkreten Objekts gekoppelt ist.

Unser Fazit: Vorausschauende Planung ist unerlässlich

Die lebzeitige Übertragung von Vermögen, insbesondere von Immobilien, ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Details, wie die Vereinbarung einer Leibrente und deren konkrete Ausgestaltung, können weitreichende und unerwartete Folgen für Pflichtteilsansprüche haben, die oft erst Jahrzehnte später relevant werden.

Das Urteil des OLG Nürnberg ist eine eindringliche Warnung davor, Standardverträge oder Muster aus dem Internet zu verwenden. Jede Vermögensnachfolge ist individuell und erfordert eine sorgfältige Analyse der familiären, wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen.

Wenn Sie eine Vermögensübertragung planen, eine Schenkung unter Vorbehaltsrechten erhalten haben oder glauben, einen Pflichtteilsergänzungsanspruch geltend machen zu können, ist professionelle anwaltliche Beratung unerlässlich. Nur so können Sie rechtssichere und auf Ihre individuelle Situation zugeschnittene Lösungen finden und kostspielige Überraschungen vermeiden.

Haben Sie Fragen zur Immobilienübertragung,
zu Pflichtteilsansprüchen oder Ihrer individuellen Vermögensnachfolge?

Die Experten der Kanzlei RPE an unseren Standorten in München und Stuttgart stehen Ihnen mit ihrer langjährigen Erfahrung zur Seite. Kontaktieren Sie uns gerne für ein persönliches Beratungsgespräch.

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